Kurzgeschichte

Die Reise des Scherbenmaennchens

… in diesem Sommer, an jenem späten Nachmittag, schien die warme Sonne gleißend hoch oben am Firmament. Der gesamte Himmel war so vollkommen klar und ebenso blau, wie die unzähligen Bergseen, welche sich wie kleine Farbtropfen über das ganze Land hinweg erstreckten. Aus der Perspektive einer geflügelten Steinschwinge, schimmerten sie bei ihrem Flug über die Ebene. Wie tiefblaue Juwelen, stachen sie aus den immergrünen Wäldern hervor. Die weit entfernten Gipfel der Sieben tronten seit jeher als die Hüter dieses Ortes über Allem.

Ein Apfel mit einerm Herz drauf liegt auf Moos

Auf ihrem Flug durch diese Landschaft, konnte das vogelartige Geschöpf ebenso eine weitere Naturgestalt erblicken. Eine lange, sich immerzu windende Schlange, aus kühlem Nass. Ihr gesamter Körper, der sich stets im Wandel befand, warf unentwegt Wellen auf, welche an den Ufern anbrandeten. Sie war so unglaublich lang, dass ihr Kopf und das Ende ihres Körpers jeweils an den gegenüberliegenden Seiten des Horizontes immer kleiner werdend verschwanden. In großer Entfernung lag in einem noch mächtigeren Gebirge indes der Urspung dieses Ungetüms. Gespeist von Niederschlägen und kleinen Rinnsälen mündeten immer wieder Wasseräderchen in ihren riesenhaften Leib. An den Ufern dieses Wassergeschöpfes grünte, erwuchs und tummelte sich das Leben selbst. So bunt und so vielfältig, dass sich Arten, Formen und Farben kaum zählen ließen.

Ein Stück hölzernes Treibgut mit einem Wurmfraß

Etwas ungeschickt, jedoch mit einer klar zu erkennenden Zielstrebigkeit, läuft das kleine Menschenkind am steinernen Ufer hin und her. Völlig unbeeindruckt vom nachgebenden Sand, den heißen Steinen und den spitzen Muschelsplittern, welche ihm dabei unentwegt in die empfindlichen Fußsohlen zwicken, setzt es seine Erkundung fort. Nach einer kurzen Weile des Herumstromerns, lässt sich der kleine Körper plötzlich auf den Boden plumsen. Über ihm wirft die mittlerweile orange gelbe Abendsonne dabei ihr wärmendes Licht auf diesen, noch von Bedeutung umspülten, Schauplatz nieder. Das azurblaue Wasser im Rücken des Menschenkindes brandet unterdes in gleichförmigen Bewegungen und Wellen wieder und wieder an das lange Ufer des schon sehr alten Flusses. Zur selben Zeit ertönen schrille Geräusche von einer Vielzahl an buntem Federgetier aus dem in naher Ferne gelegenen Wald. Doch all die Geräusche und äußeren Eindrücke lenken das kleine Menschenkind nicht von seinem eigentlichen Vorhaben ab. Eifrig leert es seine mittlerweile voll gestopften Hosentaschen aus und fördert dabei allerlei seltsame Gegstände in unterschiedlichsten Formen und Farben zu Tage.

Kieselsteine und Treibgut am Rheinufer

Anschließend beginnt es, scheinbar einem unsichtbaren Bauplan folgend, einen winzigen Körper, bestehend aus den bunten, von den Naturkräften des Wassers geschliffenen Gegenständen und Splittern, in den Sand zu legen. Nach und nach zeichnet sich so vor ihm ein Geschöpf mit Torso und vier zerbrechlich wirkenden dünnen Gliedmaßen ab. Mit kritischem Blick beäugt es, ohne einen Laut zu verschwendenden, seine Kreation. Unzufrieden ordnet es um, fügt hinzu und verwirft abermals alles wieder. Mit sich und der Erscheinung des Winzlings recht zufrieden, hält das Menschenkind kurz inne. Es bedürfe noch einem Kopf, dachte es sich. Um dies zu bewerkstelligen, gräbt es noch einmal tief in den Hosentaschen seiner ausgeblichenen Latzhose. Als seine ungeduldigen Finger plötzlich etwas für sie Passendes ertasten, huscht ein zufriedenes Lächeln über das mit Sommersprossen betupfte Kindergesicht. Der Latzhosentasche entrissen, findet ein hölzernes Stück Schwemmgut einen neuen Platz in seiner Welt voller Wunder und Magie. Jene Magie, die abseits aller Wege ihr zu Hause hat. Wohl auch dieselbe Magie, die abseits allen Bemerkens der meisten erwachsenen Menschen wirkt und nur fern ab aller Wörter existiert, welche sie versuchen greifbar zu machen.

Regenbogen auf Treibholz

Stolz und mit einem verschmitzten Grinsen auf dem Gesicht, wird das kleine Kind durch den Ruf seiner Mutter aus der eigenen Welt gerissen. Eine Welt, in die die Erwachsenen oft schon keinen Einblick mehr haben. Noch lebt das Menschenkind in dieser wundersamen Welt, Überwältigt von Sinneseindrücken und immer neuen Erfahrunge, die auf es einwirken. Irgendwann einmal aber wird das Kind auch diese Magie vergessen haben. Womöglich reiht es sich dann ebenfalls in die Riege so vieler Menschenkinder ein, die es ihm zuvor schon gleich getan hatten.

7

Zurückgelassen im Sand, liegt nun eine im Licht der Abendsonne schimmernde Figur mit gläsernen Gliedern, einem hölzernem Kopf und ein mit Stofffetzen behangenem Torso, auf denen aus Muschelsplitter bestehende Knöpfe angebracht sind. Die ausdruckslose Miene blickt dabei auf direkte Weise in den immer noch klaren Abendhimmel. Die Luft ist dabei erfüllt von einem süßlich leichten Geruch dieses vergehenden Sommertages. Um unseren Fremdling herum, schwirren ein paar Insekten, welche sich noch schnell mit Nahrung aus den bunten Blumen der Umgebung eindecken, bevor sie sich für die Nacht in ihre sichere Behausung zurück ziehen werden.

Die Hauptdarstellerin dieses Tages verbeugt sich noch tief vor ihrem Publikum, bis sie allmählich jedoch unaufhaltsam unter der schmalen Linie des Horizontes verschwindet…der Vorhang fällt.

Eine alles einnehmende Stille liegt über der Nacht. Viele Lebewesen, die meisten Gerüche des Tages und beinahe alle Farben scheinen versteckt, verschwunden und abhandengekommen zu sein. Nur am Rande des Ufers, an der Grenze des Überganges in das hohe Gras hinein funkeln zwei durchdringende Katzenaugen. Die Nacht trägt ein anderes Kleid als der Tag. Leichte Nebelschwaden ziehen mit einem lilanen Schimmer vom Wasser her kommend, über das Ufer hinweg, in die weite Flur hinein. Der am Tage noch so klar erschienene Himmel bedeckt sich mit Wolken. Hinter diesen liegt das Schwarz. Eonen von Sternen vereinen sich mit der tiefen und unendlich großen Dunkelheit des leuchtenden Universums zu einer Fläche, in der bereits hin und wieder unachtsame Blicke all zu leicht verloren gegangen sind.

Holz Harz Ring auf versteinertem Holz

Zwar existieren unzählige dieser leuchtenden Gebilde, doch gibt es nur einen Lichtpunkt am Firmament, der es in Größe und Ausstrahlung beinahe schon mit der Sonne des Tages aufzunehmen vermag. Der Monder strahlt so hell und strotzt gar voller Selbstbewusstsein in seiner Pracht, welche seit jeher, wenn er sich ihnen zeigen mochte, den nächtlich herumwandernden Geschöpfen ihren Weg wies. Von ihm selbst scheint eine seltsame und geheimnisvolle Kraft auszugehen, die sich, obgleich ungesehen für so manches Auge, auf die flüssigen Körper der Elementarwesen dieser Erde auswirkt. Komplett verfallen, bewegt sich das Wasser im Takt seines pulsierenden Herzschlages vor und zurück. Sein Anglitz spiegelt sich in der reflektierenden Oberfläche des Flusses. Immer wieder ziehen Wolken vor sein Antlitz und werfen dabei große Schattenfetzen auf das Land. Auch das Ufer, welches ein paar Stunden zuvor noch Schauplatz eines schöpferischen jungen Geistes war, umhüllt sich mit dem Spiel aus Licht und Schatten. Still und völlig regungslos, liegt der kleine Fremdling im mittlerweile abgekühlten Sand und beobachtet dabei mit leerem Blick das Treiben. In einiger Entfernung, hoch oben am Himmel, bildet sich ein kleiner Tropfen. Als er eine Größe erreicht hat, die es ihm unmöglich macht, sich weiterhin festzuhalten, lässt er los und fällt zu Boden. Auf dem Weg nach Unten reißt hinter ihm plötzlich die Wolkendecke auf. Durch diese hindurch, bahnt sich ein gleißender Lichtstrahl und erreicht den Tropfen. Gemeinsam fallen beide zu Boden.

Labradorit mit SIlberdraht umwobene Fassung

Das Licht trifft zuerst auf die Brust der kleinen Gestalt. Als dies geschieht, verlangsamt sich plötzlich die Zeit. Das Wasser des Flusses, welches zuvor noch rauschend an ihm vorbei getrieben ist, wird allmählig langsamer. Die Geräusche, die es verursacht, ebben gleichermaßen ab. Die zuvor durch leichten Wind wogenden Gräser, kommen zum Stillstand. Der Tanz der Baumgeister erfährt seine letzte Drehung, ehe alles in der Zeit zum Stillstand kommt.

Unbemerkt von Allem, trifft nur der kleine Wassertropfen nach langer Reise mit einem fast lautlosen Geräusch auf genau dieselbe Stelle, welche immer noch vom Licht des Mondes erleuchtet wird. Ein aufgeregtes Flackern von Licht zuckt über den gesamten Himmel und erlicht genau so rasch, wie es gekommen war. Fast nicht wahrnehmbar ertönt ein Doppelton des ersten Herzschlags aus der nun tief rosarot leuchtenden Brust. Stumm öffnet das Scherbenmännchen seine Augen…